Die Midterms: Schicksalswahl in Trumps Schatten

Analyse

Die Bedingungen, unter denen am 8. November 2022 gewählt wird, sind schon jetzt nicht mehr dieselben wie vor zwei Jahren. In den Vereinigten Staaten steht die Zukunft des demokratischen Systems auf dem Spiel.

Beverly Hills, CA: 28. November 2020: Stop the Steal Freedom Rally für Präsident Trump in Beverly Hills.
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Die Mehrheit der republikanischen Wählerinnen und Wähler hält Joe Biden für einen illegitimen Präsidenten.

Vor zwei Jahren sorgten die Wähler*innen in den USA für einen neuen Rekord: Die Präsidentschaftswahl 2020 erzielte die höchste Wahlbeteiligung in über einem Jahrhundert und schien ein eindrücklicher Beleg für die Widerstandskraft und die Vitalität der amerikanischen Demokratie zu sein. Doch es waren die Ereignisse um den 6. Januar 2021, die den Blick auf diese Wahl langfristig prägen werden. Die Bilder rechter Milizen und gewaltbereiter Trumpisten vor und im Kapitol waren ein Schock. Für einen Moment wirkte es zunächst so, als stellten sie lediglich den traurigen Endpunkt einer verheerenden Präsidentschaft dar. Doch knapp zwei Jahre später steht fest, dass am 6. Januar weniger etwas zu Ende ging, als vielmehr eine neue Welle reaktionärer Angriffe auf die amerikanische Demokratie ihren Anfang nahm.

Seit ihrer Niederlage im November 2020 haben Trump und die Republikanische Partei die demokratischen Grundstrukturen und Institutionen des Landes kontinuierlich angegriffen und, wo immer sie konnten, eingerissen. Die Bedingungen, unter denen am 8. November 2022 gewählt wird, sind schon jetzt nicht mehr dieselben wie vor zwei Jahren. Die Mehrheit der bei den Zwischenwahlen für die „Grand Old Party“ (GOP) antretenden Kandidaten hat sich Donald Trumps „Big Lie“ von der „gestohlenen“ Präsidentschaftswahl verschrieben; und auch die klare Mehrheit der republikanischen Wählerinnen und Wähler hält Joe Biden für einen illegitimen Präsidenten und den Angriff aufs Kapitol vom 6. Januar für zumindest teilweise gerechtfertigt. Trump, bis heute die einflussreichste Figur innerhalb der Republikanischen Partei, tourt ohne Unterlass mit seiner Stop-the-Steal Kampagne durch das Land und präsentiert sich dabei nicht nur als Wahlsieger, sondern erklärt auch präventiv zukünftige Siege der Demokraten als illegitim. Der Angriff die Demokratie findet in den USA parallel auf mehreren Ebenen statt: in den Einzelstaaten, im Kongress und vor dem Supreme Court.

Die Rede vom Wahlbetrug in den Einzelstaaten

Die Delegitimierung des Demokratischen Wahlsiegs durch die rechte Propaganda vom Wahlbetrug dient Republikanischen Gesetzgebern inzwischen als rhetorische Legitimation, Wahlgesetze im ganzen Land massiv zu verschärfen und den Zugang zur Wahlurne beliebig zu erschweren.

Im September 2021 unterzeichnete der Republikanische Gouverneur von Texas Greg Abbott eine umfassende Wahlrechtsreform, die mit chirurgischer Präzision die Stimmabgabe für ethnische Minderheiten in den liberalen Hochburgen seines Bundeslandes erschwert, während die Teilnahme für traditionell konservative Wählerinnen und Wähler im ländlichen Raum erleichtert wird. Die Reform nimmt urbanen Bezirken die Möglichkeiten, die Teilnahme an der Wahl durch zusätzliche Wahllokale, mit Hilfe von 24h Drive Thru-Wahlstation oder Briefwahl-Container zu erleichtern. Gleichzeitig wurde der Zugang zu Wahlstationen und zur Teilnahme an der Briefwahl im ländlichen Raum erleichtert.  

Allein 2021 haben Republikanische Parlamentarier in fast allen Bundesstaaten über 440 Gesetzesvorschläge eingereicht, die die Stimmabgabe für bestimmte Bevölkerungsgruppe durch Regulierungen erschweren. In 19 Staaten wurden diese Initiativen von den Republikanischen Landesregierungen inzwischen auch verabschiedet.

Republikaner, die die Rechtmäßigkeit von Joe Bidens Wahlsieg öffentlich anerkennen, haben es schwer in ihrer Partei. Das Ende von Liz Cheneys Karriere bei den Republikanischen Vorwahlen in Arizona nach ihrem Einsatz in der „Jan 6.-Commission“ ist ein besonders prominentes Beispiel. In den Ländern werden Republikaner, die sich 2020 noch gegen die Sabotage der Wahl zur Wehr setzten und Trumps Niederlage ratifizierten, von ihrer eigenen Partei aus ihren Positionen verdrängt. Zum Beispiel Aaron Van Langevelde aus Michigan, der als Republikanisches Mitglied im Board of State Canvassers (Wahlzertifizierungsausschuss) nach der Wahl November 2020 den Wahlsieg Bidens in Michigan bekannt gab und der wenig später sein Amt verlor. Ähnlich erging es zahlreichen anderen Republikanischen LandespolitikerInnen, die sich im Winter 2020 gegen den Putschversuch von Trump stellten, nur um danach von ihren eigenen Landesverbänden marginalisiert und verstoßen zu werden.

Auch der Zuschnitt von Wahlkreisen – gerrymandering genannt – hat in den letzten beiden Jahren zu weiteren extremen Verzerrungen der politischen Machtverhältnisse geführt. Der Republikanisch geführte Einzelstaat Wisconsin gilt konservativen Politikern dabei als Vorbild: Bei den Wahlen im November 2018 beispielsweise haben hier 54% der Menschen Demokraten gewählt, aber die Republikaner erhielten 63 von 99 Sitzen im Landesparlament.

Politische Macht ohne demokratische Mehrheit – das ist das Mantra, dem auch die Verantwortlichen in Texas, Georgia oder Alabama gefolgt sind, als sie die neuen Wahlbezirke zugeschnitten haben. Die alle zehn Jahre stattfindende Volkszählung (Census) hatte 2020 in Texas ergeben, dass der Anteil von People of Color in dem Staat gestiegen war – ein Trend, der die gesamten USA inzwischen prägt. In Texas aber wurde die politische Repräsentanz von Regionen, in denen mehrheitlich PoC leben, massiv reduziert. Der neue Zuschnitt der Wahlkreise macht die demographischen und auch politischen Verschiebungen unsichtbar.

Legalisierung und Glorifizierung von rechter Gewalt

Ein weiterer Angriff auf die U.S.-Demokratie ist die systematische Einschüchterung von Wahlhelfer*innen und Beamt*innen. Rechte, politische Gewalt eskalierte im letzten Präsidentschaftswahlkampf nicht erst am 6. Januar. Schon in den Wochen vor dem Wahltag meldeten ehrenamtliche Wahlhelfer*innen und Beamten*innen aus dem ganzen Land, dass sie eingeschüchtert und bedroht würden. Ihre Namen und Adresse waren veröffentlicht worden, massive Hetze im Internet aber auch Aggression auf der Straße waren die Folge. Die Drohungen waren teilweise so schlimm, dass die Menschen Polizeischutz erhielten oder sich gezwungen sahen, umzuziehen, um sich und ihre Familien zu schützen. Nach der Wahl hörte die Verfolgung keinesfalls auf: Viele der Ehrenamtlichen sind bis heute im Visier rechter Gruppen, die den Ausgang der Wahl leugnen und deren Gewaltdrohungen durch Trump’s Stop the Steal-Kampagne immer wieder angeheizt werden.

Die Republikanische Partei erkennt den Nutzen solcher Attacken und tut ihrerseits alles, um sie zu forcieren: In seiner Wahlreform vom September 2021 integrierte Texas‘ Gouverneur Abbott auch neue Regeln, die es lokalen Gerichten oder Behörden seitdem erschweren, Menschen in Wahllokalen zu schützen und die Einschüchterung und Bedrohung von Wahlhelfer*innen strafrechtlich zu verfolgen.

Hier zeigt sich eine Doppelstrategie, die in Republikanischen Staaten auch den Umgang mit liberalen politischen Protestbewegungen kennzeichnet:  Die Legalisierung rechter Gewalt in all ihren Formen und die Kriminalisierung oder Überregulierung von demokratischem Widerstand und bürgerrechtlichen Protest.

Seit den landesweiten #BlackLivesMatter Protesten 2020 haben Republikanische Gouverneure in zahlreichen Einzelstaaten sog. „anti-riot bills“ unterzeichnet. Diese Gesetze erschweren friedlichen Protest und kriminalisieren ihn, wo sie nur können. Jede Demonstration, die potentiell (!) einen Sachschaden anrichten oder den Verkehr stören könnte, kann demnach umgehend als riot klassifiziert werden; den Sicherheitsbehörden wird somit die Erlaubnis erteilt, ihnen gewaltsam zu begegnen. Gleichzeitig legalisieren die „anti-riot bills“ oft mit hoher Präzision die Angriffe auf Protestierende: In Oklahoma etwa entschied die Republikanische Mehrheit im Landesparlament, dass die Verletzung von Protestierenden durch Autos im Zusammenhang mit einer vermeintlichen Flucht vor einem „riot“ straffrei sei.

Das Versammlungsrecht – ein wesentliches Kennzeichen liberaler Demokratien – gilt somit nur noch in Teilen des Landes. Auch das verändert die Bedingungen, unter denen Demokratie gelebt und praktiziert werden kann. Diese Situation wird vor allem in dem Moment relevant, in dem das liberale Amerika versucht, sich durch Protest gegen Angriffe auf Grundrechte und die Demokratie zur Wehr zu setzen.

Das sind die Bedingungen unter denen am 8. November im ganzen Land gewählt wird.

Der Voting Rights Act und die Frage, warum das alles legal ist

1965 verabschiedete der U.S.-Kongress den Voting Rights Act, der allen amerikanischen Bürgerinnen und Bürgern ihr Wahlrecht garantierte. Nachdem das Wahlrecht von Schwarzen durch die sog. Jim Crow Gesetze in den ehemaligen Konföderierten Staaten im Süden des Landes jahrzehntelang systematisch beschnitten worden war, beschlossen die Autoren des Voting Rights Act einen Zusatz: Section 5 legte fest, dass jede Regulierung von Wahlen in diesen Einzelstaaten von dem Bundesjustizministerium oder einem Bundesgericht vorab genehmigt werden musste. Washington versprach damit zum ersten Mal auch Minderheiten, ihre Bürgerrechte im Zweifelsfall gegen Landesregierungen zu schützen.

Fünf Jahrzehnte später, nachdem 2009 erstmal ein Schwarzer Präsident ins Weiße Haus eingezogen war, reichte der Bezirk Shelby County in Alabama Klage gegen diese „pre-clearance“ nach Section 5 des Voting Rights Act ein und bekam von der konservativen Mehrheit am Obersten Gerichtshof recht. In dem Urteil Shelby County v Holder von 2013 nahm der Supreme Court dem Justizministerium das Recht, Wahlrechtsänderungen in den Einzelstaaten vor Inkrafttreten zu prüfen und im Zweifelsfall für ungültig zu erklären. Die Begründung wirkt aus heutiger Perspektive fast schon willentlich naiv und spiegelt doch den Zeitgeist der Obama-Jahre eindrücklich wider: Section 5 habe keine Relevanz mehr, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen in den Südstaaten seit den 1960er Jahren so dramatisch verändert hätten, dass struktureller Rassismus keine Rolle mehr spiele.

Ohne den Schutz durch Bundesinstitutionen hat der Voting Rights Act seine Wirkmacht in den Einzelstaaten weitgehend verloren. Nicht zufällig haben eigentlich alle Republikanisch geführten Einzelstaaten ihre anti-demokratischen Initiativen seit 2013 eskaliert. Selbst die letzte, vom ursprünglichen Voting Rights Act von 1965 noch verbliebene Vorgabe, die tatsächlich Wirkmacht hat, steht nun zur Disposition: Das Verbot von racial gerrymandering, also Wahlkreisgrenzen ganz explizit so zu ziehen, dass die Repräsentation von ethnischen Minderheiten unterwandert wird. Sollte die reaktionäre Mehrheit am Supreme Court der Argumentation des Staates Alabama im aktuellen Fall Merrill v. Milligan zustimmen, wäre auch dieser Schutz der Demokratie gefallen.

Bidens gescheiterte Wahlrechtsreform

Die Wiederherstellung des Voting Rights Act stand deshalb im Zentrum von Joe Biden’s Kampagne 2020. Noch vor dessen Amtseinführung stellte die Demokratische Fraktion im Repräsentantenhaus symbolträchtig den For the People Act vor. Gemeinsam mit dem John Lewis Votig Rights Act sollte dieses Gesetzesvorhaben den anti-demokratischen Umtrieben in den Einzelstaaten einen Riegel vorschieben und landesweit verbindliche Mindeststandards etwa für den Zugang zur Wahlurne festschreiben.

Doch der Versuch der neuen Administration, die Mehrheit im Kongress zu nutzen, um die amerikanische Demokratie zu schützen, ist zuletzt im Januar 2022 im Senat gescheitert – an der Republikanischen Fraktion, die jegliche Wiederherstellung von Wahlrechten grundlegend ablehnt, und an den beiden konservativen Demokraten Joe Manchin und Kyrsten Sinema, die eine Reform des Filibusters im Senat, die nötig wäre, um die republikanische Totalblockade zu brechen, kategorisch ausschließen. Anders als die ökonomischen und sozialen Probleme des Landes, lassen sich die Angriffe auf die amerikanische Demokratie nicht mit Haushaltspolitik abwenden. Der Demokratischen Führung ist es seit 2020 nicht gelungen, ein zentrales und wahrscheinlich das wichtigste Versprechen an ihre Wählerinnen und Wähler einzulösen: Die Amerikanische Demokratie zu retten, so lange demokratische Kräfte noch die politische Mehrheit in Washington halten.  

Worüber am 8. Nov. abgestimmt wird und was sich nach den Wahlen ändert.

Am 8. November geht es nicht nur um die Machtverhältnisse im Kongress. An diesem Tag finden im ganzen Land tausende von Wahlen statt: Gouverneure, Bürgermeister, Landesparlamente und Gemeinderäte müssen neu konstituiert werden. Und anders als in Deutschland werden an diesem Tag auch politische Ämter neu bestimmt, wie die Position des Secretary of State, die in den meisten Bundesländern maßgeblich für die Organisation und Ratifizierung von Wahlen verantwortlich sind. In zahlreichen Red States stehen überzeugte Trumpisten für dieses Amt auf dem Wahlzettel, die das Ergebnis der Wahl 2020 bis heute leugnen. In anderen Staaten, in denen diese Position nicht gewählt, sondern vom Gouverneur besetzt wird, haben Republikanische Kandidaten wie Doug Mastriano in Pennsylvania bereits versprochen, einen Secretary of State zu ernennen, der einen möglichen Wahlsieg der Demokraten bei künftigen Präsidentschaftswahlen nicht ratifizieren würde.

Der 6. Januar 2021 - ein Testlauf

Man sollte die Ereignisse des 6. Jan 2021 deshalb als eine Art Testlauf einordnen. Spätestens seit den öffentlichen Anhörungen des Untersuchungsausschusses des Repräsentantenhauses zum 6. Januar wissen wir, dass der Sturm auf das Kapitol im Fernsehen zwar wie eine eruptive Gewalteskalation gewirkt haben mag, aber von langer Hand geplant war und von rechten Milizen diszipliniert umgesetzt wurde. Und es ist mittlerweile auch klar, dass die Ereignisse auf dem Capitol Hill nur einen Teil des Umsturzversuchs darstellten: nur die letzte Eskalationsstufe eines vielschichtigen, sich über viele Wochen und in unterschiedlichen Schritten vollziehenden Angriffs auf die Demokratie, der weniger dramatische Bilder produzierte, sich in der Rückschau jedoch  als mindestens ebenso folgenschwer erwies. Die Versuche von Trump und seinem Team, Republikanische Beamte in entscheidenden swing states davon zu überzeugen, die Ergebnisse zu Gunsten Trumps zu manipulieren, mögen dilettantisch wirken und schlecht vorbereitet gewesen sein. Doch mit ihren autoritären Instinkten haben Trump und seine Leute hier die Stellen im demokratischen System identifiziert, mit deren Hilfe man Wahlen ohne demokratische Mehrheiten garantiert „gewinnen“ kann.

Obwohl der Umsturz 2021 schlussendlich gescheitert ist, darf man seine Bedeutung als Blaupause und Inspirationsquelle für die konservative und rechte Bewegung im Land nicht unterschätzen. Ob die GOP bei der nächsten Präsidentschaftswahl in den Bundesstaaten in der Position sein wird, einen anti-demokratischen Umsturz tatsächlich auch erfolgreich umzusetzen, hängt nun ganz wesentlich von den Ergebnissen der Wahlen am 8. November ab[MAK1] [EM2] . In stabilen demokratischen Systemen sollte nicht mit jeder Wahl die Demokratie selbst zur Disposition stehen. Aber genau das ist bei den kommenden Zwischenwahlen – und vermutlich auf absehbare Zeit allen Wahlen in den USA – jetzt die Ausgangslage. Es könnte tatsächlich die letzte Wahl sein, bei der zumindest im überwiegenden Teil des Landes unter demokratischen Bedingungen abgestimmt wird.

Die große Hoffnung besteht nun darin, dass es den Demokraten trotz allem gelingt, ihre Wähler*innen in allen sozialen Schichten zu mobilisieren und politische Mehrheiten zu halten oder sogar auszubauen.  Allein die Tatsache, dass die Demokraten überhaupt eine Chance haben bei diesen Zwischenwahlen zu gewinnen – trotz hoher Inflation und trotz unbeliebtem Präsidenten – ist eindrücklicher Beleg, dass die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung das reaktionäre Projekt der Republikanischen Partei klar ablehnt und verstanden hat, wie viel auf dem Spiel steht. Es sind nicht die Institutionen oder Traditionen, die einem mit Blick auf die USA Hoffnung machen sollten, es ist die Geschwindigkeit und Unübersehbarkeit, mit der sich die amerikanische Gesellschaft seit Jahren demokratisiert und liberalisiert.